Lange nicht alle Menschen, die berechtigt sind, Sozialleistungen zu beziehen, beantragen sie auch.

Die Angst vor Stigmatisierung bei Bezug von Sozialleistungen

Die Juli-Zahlen, die die Bundesagentur für Arbeit vorlegte, weisen einen leichten Anstieg der Arbeitslosenzahl auf. Im selben Zeitraum sank wiederum die Zahl der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. Das mag ein Hinweis darauf sein, dass die Anzahl der Antragsteller abgenommen hat. Doch was könnte ein Grund dafür sein?

Anspruchsberechtigte verzichten auf Antragstellung

Lange nicht alle Menschen, die berechtigt sind, Sozialleistungen zu beziehen, beantragen sie auch. Viele verzichten auf ihre Ansprüche, obwohl sie die Leistungen dringend brauchen. Die Inanspruchnahme scheitert aus vielen Gründen. In einem Laborexperiment hat das „Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung“ (DIW) nachgewiesen, dass die Angst vor Stigmatisierung hierbei ein bestimmender Faktor ist.

Bislang konnte die wissenschaftliche Forschung nachweisen, dass Informationsdefizite eine Rolle spielen, ob Berechtigte einen Antrag stellen oder nicht: Also die fehlende Kenntnis über die Rechte des Bedürftigen. Von Belang ist ebenso, dass Leistungsberechtigte mit dem Umfang der Anträge hadern und die oft unübersichtlichen Nachweise abschrecken, die sie erbringen müssen.

Im Fall von Grundsicherung wird geschätzt, dass mehr als die Hälfte der Berechtigten keine Anträge stellen. Auch mit Blick auf Hartz IV-Empfänger ist die Quote hoch.

Die Angst vor der Meinung anderer

Einem wissenschaftlichen Experiment, das im Auftrag der DIW durchgeführt wurde, gelang es nachzuweisen, dass Stigmatisierung ein ausschlaggebender Faktor bei der Frage der Inanspruchnahme von Sozialleistungen ist. Der Kernpunkt ist die Sichtbarmachung. Sobald eine Person, die ihre Ansprüche auf Leistungen wahrnehmen will, für andere sichtbar wird, verändert sich ihr Verhalten. Die Zahl derer, die verzichten ist hoch. Dass die eigenen Verhältnisse anderen Personen gegenüber offen gelegt werden, ist ein maßgebliches Hindernis. Das Experiment räumt letzte Zweifel daran aus.

Hinweis:  Das bedeutet Stigmatisierung

Sie ist der Prozess der öffentlichen Bloßstellung einer Person. Selbst Armut, wenn sie sichtbar gemacht wird, kann ein soziales Stigma sein. Ohne Sichtbarmachung kein soziales Stigma.
Empfängt jemand Sozialleistungen, werden ihm negative Eigenschaften zugeschrieben. Zum Beispiel sei er:

  • weder leistungsbereit noch leistungsfähig
  • ungenügend motiviert
  • dauerhaft unfähig, für sich selbst zu sorgen und trage daran die Schuld
  • zudem mangele es ihm an moralischer Integrität.

Im Einzelnen unterscheidet die Auswertung des Experiments zwischen dem „Leistungsstigma“ und dem „moralischen Stigma“. Zum Leistungsstigma: Die Probanden verzichteten auf Einkommen, wenn für die anderen Teilnehmer sichtbar wurde, dass sie möglicherweise die Leistungsfähigkeit der anderen nicht erreichten.

Das „moralische Stigma“ spielte ebenso eine bedeutende Rolle: Im Experiment hielt es viele schon dann davon ab, ihre Rechte wahrzunehmen, wenn der Eindruck entstand, sie würden sich Vorteile verschaffen. Sie befürchteten, dass andere sie lediglich als Nutznießer eines Angebotes sehen.

Achtung: Mögliche Folgen der Stigmatisierung

  • Angst vor Ausgrenzung
  • tatsächlich stattfindende Ausgrenzung
  • die Übernahme des negativen Fremdbildes ins eigene Selbstbild
  • Verzicht auf die Wahrnehmung von Ansprüchen

Notwendigkeit von diskreten Verfahren für die Antragstellung

Im Sozialgesetzbuch ist die soziale Teilhabe ein festgelegtes Ziel, das allen zugute kommen soll, unabhängig von ihrem Einkommen. Um dem Ziel näher zu kommen, müssen diskrete Verfahren für Anträge auf Sozialleistungen befördert werden.

Die Schlussfolgerungen, die die Verantwortlichen aus ihrem DIW-Experiment ziehen, weisen in diese Richtung. Der Stigmatisierung der Antragsteller muss vermieden, der Weg zur Beantragung leichter werden. Was sie vorschlagen, scheint auch ohne Weiteres umsetzbar:

  • die Beantragung von Sozialleistungen sollte online durchführbar sein. Die digitale Akte wird in den Behörden in den nächsten Jahren Realität sein. Technisch wäre die Aufgabe also zeitnah lösbar.
  • da ohnehin ein Datenaustausch zwischen den Ämtern stattfindet, ist es auch grundsätzlich möglich, Sozialleistungen ohne separaten Antrag auszuzahlen. Vor allem mit Blick auf die Grundsicherung ist das machbar. In Österreich ist es bereits umgesetzt.
  • die Beantragung könnte in Bürgerämtern stattfinden. Dieses bearbeitet die unterschiedlichsten Anliegen. Wer Sozialleistungen beantragen will, bliebe zunächst unidentifiziert.

Quellen:

 

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Geschrieben von: Paul zu Jeddeloh

Seit 2019 bereichert er unser Anwalts-Team und macht sich für die Rechte von Bürgergeld-Empfänger:innen stark. Soziale Ungerechtigkeiten räumt er aus dem Weg. Sein weitreichendes Know-how aus vergangenen Fällen und sein tiefgreifendes Wissen über aktuelle Entwicklungen im Sozialrecht verhelfen zahlreichen Ratsuchenden zum Recht.

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