Eine Person muss ihre Ersparnisse verbraucht haben, ehe sie Sozialleistungen beanspruchen kann. Alles oberhalb eines Freibetrages muss zuvor verlebt werden. Doch darf das Sozialamt vorschreiben, auf welchem Ausgabenniveau sie ihre Ersparnisse verbrauchen muss? Nein, das darf es nicht.
Behördlicher Eingriff in Lebensführung nicht erlaubt
Zu diesem Urteil kam das Landessozialgericht in Mecklenburg-Vorpommern in einem Verfahren im April 2019. Es schiebt dem behördlichen Eingriff in die „freie Lebensführung“ des Individuums einen Riegel vor. Ein richtungsweisendes Urteil für viele, die damit rechnen müssen, einmal auf Grundsicherung angewiesen zu sein und zuvor etwas angespart haben.
Berechnung des Grundfreibetrags
Er errechnet sich wie folgt: 150 EUR je vollendetem Lebensjahr. Allerdings ist er in der Höhe begrenzt. Maximale Freibeträge (oft auch Schonvermögen genannt) sind diese:
Personen, mit Geburtsdatum |
max. Höhe des Freibetrages |
vor 01.01.1958 |
9.750 EUR |
nach 31.12.1957 |
9.900 EUR |
nach 31.12.1963 |
10.050 EUR |
Minderjährige |
3.100 EUR |
Sozialamt schreibt Höhe des Verbrauchs des Ersparten vor
Doch der Reihe nach. Eine ehemals selbständige Person nahe dem Rentenalter beantragt Grundsicherung (nach SGB II). Es stellt sich heraus, dass sie über eine Lebensversicherung in Höhe von etwa 25.000 EUR verfügt. Das zuständige Sozialamt ermittelt daraufhin ihren Monatsbedarf und rechnet ihr vor, dass sie nach Abzug des Freibetrages von 9.450 EUR 17 Monate von diesem Geld leben kann – und zwar auf dem Ausgabenniveau der Grundsicherung. Erst danach könne sie ihren Antrag stellen.
Hilfebedürftigkeit grob fahrlässig selber hergestellt?
Nicht erst nach 17, sondern bereits nach sieben Monaten beantragte die Frau erneut Sozialleistungen, zehn Monate früher als zugebilligt. Sie hatte in der Zwischenzeit das verbliebene Geld für die Neuanschaffung von Möbeln verbraucht.
Achtung: Sozialamt fordert Nutzung der Ersparnisse
Das Sozialamt bewilligte zwar den Antrag, forderte aber später den Betrag der gezahlten Leistungen für die zehn Monate zurück. Der Grund: Die Frau habe sozialwidrig gehandelt. Sie hätte mit ihren Ersparnissen besser wirtschaften müssen und zehn Monate länger auskommen können.
Die Frau legte Widerspruch ein. Das Sozialamt bestand auf die Rückzahlung („Ersatzpflicht“). Es kam zum Verfahren. Das Sozialamt argumentierte vor Gericht so:
- den Kauf der Möbel hätte die Person aus dem Freibetrag finanzieren müssen und nicht aus dem Betrag, der oberhalb des Schonvermögens liege.
- die Person habe sozialwidrig gehandelt, weil ihre Handlungstendenz auf Herbeiführung der Bedürftigkeit ausgerichtet gewesen sei.
- die Person habe „übermäßiges Verbraucherverhalten“ gezeigt.
Die Frau bestritt die Vorwürfe und erklärte, dass die Anschaffungen überfällig gewesen seien. Sie besitze kein Auto, sei nicht in Urlaub gefahren und sei im Übrigen in der Verfügung über ihr Geld frei.
Hinweis: Das bedeutet sozialwidriges Verhalten
Das Bundessozialgericht hat in einem Urteil aus dem Jahr 2012 eng ausgelegt, was genau unter „sozialwidrigem Verhalten“ zu verstehen ist:
- Selbst dann, wenn das Verhalten einer Person in hohem Maße verwerflich sei, handele sie nicht „sozialwidrig“.
- Grobe Fahrlässigkeit reiche nicht aus.
- Erst wenn es einen inneren Zusammenhang ihrer Handlungen gibt, die auf den Leistungsbezug abzielen, handele sie sozialwidrig („deliktähnlicher Ausnahmetatbestand”).
Das Bundessozialgericht hat in einem Urteil aus dem Jahr 2012 eng ausgelegt, was genau unter „sozialwidrigem Verhalten“ zu verstehen ist:
- Selbst dann, wenn das Verhalten einer Person in hohem Maße verwerflich sei, handele sie nicht „sozialwidrig“.
- Grobe Fahrlässigkeit reiche nicht aus.
- Erst wenn es einen inneren Zusammenhang ihrer Handlungen gibt, die auf den Leistungsbezug abzielen, handele sie sozialwidrig („deliktähnlicher Ausnahmetatbestand”).
Sozialgericht schränkt Befugnisse des Sozialamts ein
Das Sozialgericht gab der Frau Recht und entband sie von der Rückzahlung. Das Landessozialgericht bestätigte das Urteil und kritisierte das Sozialamt harsch: Es habe die Grenzen rechtmäßigen Handelns überschritten, als sie von der Bedürftigen forderte, 17 Monate von ihrem Ersparten zu leben.
Bemerkenswerte Urteilsbegründung
Die anschließende Urteilsbegründung hatte es in sich. Das Gericht führte aus: Die Gründe für die Bedürftigkeit spielen keine Rolle. Es sei staatliche Pflicht, für das Existenzminimum aufzukommen. „Zu prüfen, ob die Hilfebedürftigkeit nachvollziehbar entstanden ist, sei nicht Aufgabe der staatlichen Stellen“.
Und damit nicht genug. Das Landessozialgericht stellte obendrein klar: Es verbiete sich, dass staatliche Stellen bewerten, welche Ausgaben eines Individuums sie billigen könne und welche nicht, welche Ausgaben achtenswert oder sozialadäquat wären. Das Ausgabenniveau obliege der „freien Lebensführung“.
Quelle:
Dienstleistungsportal Mecklenburg-Vorpommern
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